B. Olschowsky et al. (eds.): Central and Eastern Europe after the First World War

Cover
Titel
Central and Eastern Europe after the First World War.


Herausgeber
Olschowsky, Burkhard; Juszkiewicz, Piotr; Rydel, Jan
Reihe
Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa
Erschienen
Anzahl Seiten
435 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Conrad, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Titel dieses Sammelbands über die unmittelbaren Folgejahre des Ersten Weltkriegs in Ostmitteleuropa lässt dessen leitende These nicht erkennen. Doch in ihrer Einleitung postulieren die Herausgeber Burkhard Olschowsky, Piotr Juszkiewicz und Jan Rydel ohne Umschweife, dass die Geschichte des Ersten Weltkriegs umgeschrieben werden müsse. Statt wie üblich auf 1918 müsse dessen Ende auf 1923 datiert werden. Die von ihnen attestierte hundertjährige Blindheit der Geschichtswissenschaft führen sie darauf zurück, dass die Geschichte dieses Krieges bislang hauptsächlich von Historikern der westlichen Siegermächte oder Deutschlands geschrieben worden sei. Dabei seien ostmitteleuropäische Perspektiven sträflich vernachlässigt worden (Olschowsky u.a., S. 12–14).

Der Band basiert auf einer Konferenz, die 2018 in der slowakischen Botschaft in Berlin stattfand. Dem 70-seitigen, reich bebilderten Überblick der Herausgeber folgen insgesamt 25 Einzelaufsätze, die internationale, nationale, regionale und lokale Ereignisse und Entwicklungen in Ostmitteleuropa beleuchten. Dies reicht bis zu lokal ansetzenden Fragestellungen wie der nach der Entwicklung der Sozialdemokratie im bis 1918 ungarischen, dann tschechoslowakischen Košice (Simon), die jedoch in der Regel mit übergeordneten Problemen verschränkt werden.

Anstatt eine Zusammenfassung der einzelnen Beiträge zu liefern, setzt sich diese Rezension primär mit dem historiographisch schwerwiegenden Periodisierungsvorschlag der Herausgeber auseinander und fragt, inwieweit sich dieser auf die Befunde der Einzelbeiträge berufen kann. Schließlich ist die Erkenntnis, dass es Folgekriege unmittelbar nach 1918 gab, keine neue. Allein zum Polnisch-Sowjetischen Krieg 1920–1921 sind viele Monografien und Sammelbände in verschiedenen Sprachen erschienen.1 Jay Winter konturiert das Postulat, der Erste Weltkrieg habe 1914–1923 stattgefunden, näher. Er schlägt eine Einteilung in einen „First Great War“ 1914–1917 und einen „Second Great War“ 1917–1923 vor. In Letzterem hätte eine Art Bürgerkrieg Mittel-, Ost- und Südosteuropa erfasst, der sich durch mehr Gewalt gegen Zivilist:innen vom vorangegangenen ersten Abschnitt unterschieden hätte (Winter, S. 81–91).

Ebenso wie die Herausgeber übersieht Winter, dass die Begriffe „Erster“ und auch „Zweiter Weltkrieg“ eine globale Dimension besitzen. Deshalb erscheint es sinnvoll, das Ende dieser Kriege mit dem Ende der Kampfhandlungen zwischen der Mehrzahl der beteiligten Staaten anzusetzen, zumal die Nachkriegsordnung – auf den Waffenstillstand von Compiègne 1918 folgend – in der ersten Jahreshälfte 1919 in Paris entstand, und eben nicht 1923. Begriffliche Neuschöpfungen wie diejenigen Winters sind zudem in Sprachen, in denen der Begriff des „Great War“ nicht geläufig ist, schwer möglich. Ein „Zweiter Erster Weltkrieg“ wäre im Deutschen begrifflich irreführend.

Für die meisten neuen und vergrößerten Staaten Ostmitteleuropas bedeutete kein anderes Jahr als 1918 die Entstehung oder Festigung der Staatlichkeit. Dies gilt von Finnland bis zum SHS-Staat. In der weitestgehend militärischen Argumentation der Herausgeber fehlt der Blick auf die politischen Systeme der am Krieg beteiligten Staaten. Unter den übrigen Beiträger:innen füllt Karolina Łabowicz-Dymanus einen Teil dieser Leerstelle, indem sie in ihrem Aufsatz über den Durchbruch des Frauenwahlrechts die Bedeutung des Jahres 1918 überdeutlich macht (S. 341). Sie übersieht freilich, dass in Russland Frauen schon 1917 hatten wählen dürfen. Ebenso wie im Westen des Kontinents suchten auch Politiker und Regierungen im östlichen Europa ab 1918 innenpolitische Wege aus dem Krieg, indem sie möglichst schnell Wahlen ausschrieben. So fanden in Finnland, Estland, Polen und Rumänien die ersten allgemeinen Wahlen noch 1919 statt. Zwar verhinderten die Folgekriege des Ersten Weltkriegs, dass in Ländern wie Lettland oder Litauen 1919 gewählt werden konnte, doch wurde dies schon 1920 nachgeholt.

Es hilft ferner, komparativ auch den Blick auf die Zeit nach 1945 zu richten. Auf das Ende des Zweiten Weltkriegs folgten ebenfalls zahlreiche Folgekriege und -konflikte, so zwischen europäischen Staaten, die ihre Kolonialgebiete gegen den Willen der Einheimischen wieder in Besitz nehmen wollten (Indochina, Indonesien). Ebenso gab es Bürgerkriege entlang der in Entstehung begriffenen Blockgrenzen (China, Griechenland) sowie Aufstände und Untergrundkämpfe gegen unerwünschte Grenzziehungen, wie innerhalb der westlichen Sowjetunion (Baltikum, Westukraine). Von der endemischen Gewalt im Zusammenhang mit Fluchtbewegungen, Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen nach 1945 ist in dieser Aufzählung noch gar nicht die Rede. Keiner dieser militärischen oder militarisierten Konflikte wurde indes bislang historiographisch dazu genutzt, die Dauer des Zweiten Weltkriegs über das Jahr 1945 hinaus auszudehnen.

Im Übrigen fällt auf, dass die Leitthese der Herausgeber von den Beiträger:innen des Sammelbandes alles andere als konsistent aufgegriffen wird. In mehreren Aufsätzen endet der „Great War“ wie gewohnt im Jahr 1918 (Kobakidze, S. 241; Borodziej/Górny, S. 249; Hofmeister, S. 283; Dziewanowski-Stefańczyk, S. 353). Auch der Beitrag von Jochen Böhler zum „mitteleuropäischen Bürgerkrieg“, der vermutlich in der Gliederung des Werks besser dem Einführungsteil als den nachfolgenden Einzelstudien zugeschlagen worden wäre, beschränkt sich in seiner Deutung auf die behandelte Region Ostmitteleuropa und postuliert, dass der Weg zum Frieden hier ab 1918 blockiert gewesen sei (Böhler, S. 97).

Winters Einordnung der Kriegsereignisse in Estland und Lettland als mikroskopische Bürgerkriege innerhalb des übergeordneten Russischen Bürgerkriegs (Winter, S. 87) dürfte nicht nur in den nationalen Geschichtsschreibungen der genannten Länder keine Zustimmung finden. In diesem Ansatz findet die abweichende nationale Konnotation keine Beachtung. Zudem endeten besagte Kriege für beide Seiten mit internationalen Friedensverträgen. An anderer Stelle wird indes zurecht auf die Kassation des durch Stalin und Lenin 1917 proklamierten Rechts der Völker Russlands auf unabhängige Staaten eingegangen, die den Kampfhandlungen vorausgegangen war (Olschowsky, S. 153). Der Begriff des Bürgerkriegs erscheint vor diesem Hintergrund nicht unproblematisch.

Es haben sich auch einige Sachfehler in den Band eingeschlichen: Die Friedenskonferenz der Alliierten fand in Paris statt, nicht in Versailles (Olschowsky, S. 164; richtig bei Templin, S. 135; Suppan, S. 199). Beide Friedensverträge von Brest-Litowsk datieren auf das Jahr 1918, nicht auf 1917 (S. 141). Karten in kyrillischer Beschriftung dürften für den Großteil der Leserschaft keinen Mehrwert haben (Zamoiski, S. 270f.). In der Zeittafel wird der Waffenstillstand von Compiègne falsch auf den 7. November 1918 datiert (S. 394) und eine „Ratifikation“ des Versailler Vertrags auf den 10. August 1920 gelegt (S. 395), also sieben Monate nach dessen Inkrafttreten. Kurt Eisner soll angeblich am 7. April 1919, sechs Wochen nach seiner Ermordung, zum Regierungschef der bayerischen Räterepublik ausgerufen worden sein (S. 401).

Angesichts des expliziten Anspruchs der Herausgeber, die Mentalität des Kalten Krieges hinter sich gelassen zu haben und eine postkoloniale Perspektive einzunehmen (Olschowsky u.a., S. 11, 48–51), bleibt unverständlich, warum Städte auf dem Territorium der heutigen Ukraine überwiegend in russischer Sprache genannt werden. Insbesondere irritiert die beständige Verwendung von „Lvov“ (vereinzelt anders unter anderem bei Böhler, S. 100f.; Szarka, S. 212), da Lemberg/L’viv/Lwów im Untersuchungszeitraum des Bandes nie sowjetrussisch war.

Blendet man den übergeordneten Ansatz wie auch die besprochenen Mängel aus, so liefert das Buch sehr wohl viele solide, gut recherchierte Aufsätze, die zusammengenommen ein breites Panorama der Folgekriege des Ersten Weltkriegs bieten. Besonders lobenswert ist, dass das Blickfeld bis in den Kaukasus reicht und somit auch die deutsche Besatzung Georgiens thematisiert (Kobakidze). Ebenso zu begrüßen sind transnationale Ansätze sowie die lesenswerten Einzelstudien zu Juden in Ostmittel- und Südosteuropa (Hofmeister), zu den psychischen Folgen des Krieges (Urbanek) wie auch zu Frauen in Ostmitteleuropa (Łabowicz-Dymanus). Eine neue Chronologie der Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs ergibt sich aus diesen innovativen sozialgeschichtlichen Schlaglichtern jedoch nicht.

Anmerkung:
1 Vgl. aus der jüngsten Literatur: Jerzy Borzęcki, Soviet-Polish peace of 1921 and the creation of interwar Europe, New Haven 2008; Sławomir Dębski (Hrsg.), Zapomniany pokój. Traktat ryski. Interpretacje i kontrowersje 90 lat później, Warszawa 2013; Kacper Śledziński, Wojna polsko-bolszewicka. Konflikt, który zmienił bieg historii, Kraków 2020.